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Digitaler Zwilling & ERP: Chancen, Herausforderungen, Anwendungen für die Produktion

09.07.2020 - ERP, MES, Industrie 4.0

Quelle: iStock.com/gorodenkoff
Quelle: iStock.com/gorodenkoff

Dem digitalen Zwilling (englisch: digital twin) wird großes Potential nachgesagt, wenn es um die umfassende Digitalisierung und damit Optimierung von Produktionsprozessen geht.

Doch was genau sich hinter dem Konzept verbirgt und wie man die Potentiale konkret nutzen kann, wird viel zu selten gesagt. In diesem Artikel erklären wir, was ein digitaler Zwilling ist, welche konkreten Einsatzszenarien es gibt und was es bei der Einführung in Ihrem Unternehmen zu beachten gibt, lesen Sie in diesem Artikel.

Was ist ein digitaler Zwilling?

Ein digitaler Zwilling ist eine mehr oder weniger genaue, digitale Repräsentanz eines Objekts, das bereits existiert oder das es in der Zukunft geben wird. Berücksichtigung finden neben per Sensor erfassten Daten auch alle dynamischen Zusammenhänge, die das Objekt beeinflussen. Ziel dieses digitalen Abbildes ist es zu jedem Zeitpunkt, Aussagen darüber treffen zu können, in welchem Zustand sich das reale Objekt befindet.

In der Produktionswelt und Fertigungssteuerung bzw. im Umfeld von ERP + MES ist vor allem der digitale Fabrikzwilling relevant. Bei dieser spezifischen Form des digitalen Zwillings werden Daten von Maschinen, Anlagen, Menschen und Prozessen erfasst, um die gesamte Fabrik digital abzubilden.

Quelle: PSI Automotive & Industry GmbH
Quelle: PSI Automotive & Industry GmbH

Wie ist das Zusammenspiel des digitalen Zwillings mit ERP und MES?

Wie jede Technologie muss der digitale Zwilling in die Wertschöpfungsprozesse von Unternehmen eingebunden werden, um seine theoretischen Vorzüge in der Praxis auszuspielen. Bereits heute sind ERP + MES das Rückgrat der Produktion. Kein Wunder also, dass dieses Duo in Fertigungsunternehmen die Theorie in die Praxis überführen soll. ERP und MES blicken dabei auf verschiedene Teilbereiche der Fertigung und geben jeweils den spezifischen Kontext, vor dem die Daten aus dem digitalen Zwilling erst Sinn ergeben und zu einem realistischen Modell der Wirklichkeit verknüpft werden können.

Welche konkreten Anwendungen erlaubt ein digitaler Zwilling?

Doch wie sehen Anwendungen des digitalen Zwillings im Alltag produzierender Unternehmen in der Praxis aus und welche Vorteile lassen sich damit verwirklichen? Diese fünf industrieerprobten Beispiele veranschaulichen den Nutzen:

Fabrikzwilling

Der Fabrikzwilling ermöglicht die Überwachung und Steuerung technischer Prozesse. Aktuelle und historische Daten zum Produktionsprozess sowie Maschinenstatus können in einem Fabrikmonitor jederzeit gewonnen, visualisiert und zur Ableitung notwendiger Maßnahmen genutzt werden. Die Topologie der Fertigung kann auf einfache Weise in 2D oder 3D modelliert und entsprechende ds Layouts dargestellt werden. Für produzierende Unternehmen ergeben sich vielfältige Vorteile:

  • Fehler können sofort erkannt und behoben werden
  • Frühwarnsystem: Bereits vor der Entstehung können Fehler proaktiv vermieden werden
  • Geringere Stillstandszeiten in der Produktion und eine erhöhte Produktivität
  • Maximale Transparenz in der Fertigung
  • Kennzahlen werden im Gesamtzusammenhang erfassbar und besser verständlich

Predictive Maintenance

Weitergehend vom Fabrikzwilling können Unternehmen – ausgehend vom aktuellen Zustand und historischen Verhalten –  Prognosemodelle für das zukünftige Verhalten von Maschinen und Anlagen erstellen. Dafür wird der Zustand von Maschinen und Anlagen per Sensor genau  erfasst, überwacht und anschließend protokolliert, wie oft Maschinen und Werkzeuge genutzt worden sind.

Mit Hilfe von Algorithmen und künstlicher Intelligenz können dann Aussagen über die Zukunft getroffen werden, die als Entscheidungshilfe Hinweise darauf geben können, ob zum Zeitpunkt X Wartungsarbeiten nötig sein werden und durch proaktive Maßnahmen ein Produktionsausfall verhindert werden kann.

Qualitätsplanung

Analog zur Wartungsplanung mittels Predictive Maintenance können auch für die Produktion von Materialen und Werkstücken Prognosen über die Qualität getätigt werden. Montageschritte müssen dazu  überwacht und die entsprechenden Daten hinterlegt werden. Die Folge: Es kann sehr genau vorausgesagt werden, ob die produzierten Güter in der gewünschten Qualität vorliegen werden oder mit Ausfällen zu rechnen ist.

Forecasting

Hierbei handelt es sich um Prognosen für verbesserte Planungen von Abläufen im MES. Eine solche Feinplanung bzw. Vorausplanung von Aktivitäten kann mit Hilfe eines digitalen Zwillings optimiert werden, denn dieser kann die zukünftige Situation in der Fertigung voraussagen. Produktionsleiter werden so in die Lage versetzt, fundiertere Entscheidungen zu treffen und Störfaktoren frühzeitig zu erkennen.

Fahrzeugakte

Über den gesamten Herstellungs- und Betriebszyklus eines Fahrzeuges fallen große Mengen an Daten an, die in einer digitalen Fahrzeugakte protokolliert werden können. Zwei Bereiche sind dabei von großer Bedeutung:

  • Wie waren die Werte und Paramater in der Fertigung?
  • Welche Teile wurden verbaut?

Der Herstellungsprozess kann in der entsprechenden Genauigkeit in der digitalen Ebene in Form von Daten und Zusammenhängen in der Fahrzeugakte hinterlegt und mit Soll-Werten verglichen werden. Wenn während des Betriebes des Fahrzeuges Auffälligkeiten (z. B. erhöhte Kosten für Garantieleistungen) auftreten, kann direkt nachvollzogen werden, ob andere Fahrzeuge mit ähnlichen Rahmenbedingungen betroffen sein könnten und diese ggf. eine Inspektion benötigen.

Qualitätsmanagement

Modul-Icon PSIpenta ERP Qualitätsmanagement
Screenshot Modul Qualitätsmanagement

Das integrierte ERP-Modul Qualitätsmanagement von PSI dient der Erfassung, Verwaltung und Auswertung von Qualitätsmerkmalen für Mess- und Prüfaufgaben in der Produktion und dem Einkauf.

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Welche Voraussetzungen müssen Unternehmen für den digitalen Zwilling schaffen?

Für den Einsatz eines digitalen Zwillings ist eine hinreichende Datengrundlage Voraussetzung, die umso genauer sein muss, je präziser Unternehmen in ihre Fertigung proaktiv eingreifen und steuern möchten. Wenn ein Unternehmen einen digitalen Zwilling seiner Fabrik erstellt, muss es also dafür Sorge tragen, dass der aktuellen Zustand über die Technik mittels Sensoren und IoT-Technologie zur Verfügung gestellt wird (z. B. die Innenraumtemperatur).

Absolute Perfektion ist hier jedoch fehl am Platz. Vielmehr müssen Prozessschrittketten und Abläufe durchgespielt werden und jeweils beantwortet werden, welche Information mit welcher Genauigkeit vorhanden sein muss, um mit dem digitalen Zwilling sinnvolle Aussagen treffen zu können.

Wo lauern die Fallstricke bei der Einführung der Technologie durch fertigende Unternehmen?

Damit Unternehmen die für sie relevanten Fragen mit Hilfe des digitalen Zwillings beantworten können, müssen die entsprechenden Prozesse digital abgebildet werden. Falls dies noch nicht der Fall ist, muss das Unternehmen mitsamt seiner Prozesse für die Digitalisierung vorbereitet werden: Dies meint eine hohe Prozessreife mit klaren Prozessabläufen und Konzepten, wie Abläufe aussehen sollen.

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Was ist der Unterschied zwischen digitalem Zwilling und digitalen Schatten?

In der Diskussion um den digitalen Zwilling taucht auch immer wieder das Konzept des digitalen Schattens auf. In der Realität ist diese Unterscheidung oft eher akademischer Natur, denn die Übergänge sind fließend. Der Hauptunterschied zwischen digitalen Schatten und Zwilling ist die Genauigkeit des Abbildes. Der digitale Schatten ist tendenziell eher ungenau und gröber, während der digitale Zwilling beliebig genau sein kann.

Für die Praxis produzierender Unternehmen ist die Unterscheidung also eher nachrangig. Für Unternehmen müssen vielmehr Aufwand und Nutzen für die jeweilige Aufgabe  im Einklang stehen. Die Abbildung – egal ob Schatten oder Zwilling  – muss hinreichend genau sein, um den erwünschten Nutzen zu erzielen.

Die Kartenfunktion von Google Maps ist ein gutes Beispiel, um diese Überlegungen zu veranschaulichen. Bei der Verkehrs- bzw. Stauanzeige handelt es sich um einen digitalen Schatten. Die Informationen über den Verkehr sind abstrakt, jedoch hinreichend genau, um zu reagieren und eine andere Route zu wählen. Exakte Informationen darüber, wie viele Autos vor einem im Stau stehen und um welche Modelle es sich handelt, würden zwar von einem digitalen Zwilling geliefert, sind aber nicht nötig, um das gewünschte Ergebnis zu erzielen. Man kann daraus lernen:

Wenn produzierende Unternehmen keine neuen Erkenntnisse aus der Digitalisierung von Fertigungsschritten erlangen können, macht ein digitaler Zwilling für ihre Belange keinen Sinn.

Wie verändert der digitale Zwilling die Fertigung?

Wie schnell wird sich der digitale Zwilling durchsetzen und was kann man Unternehmen dazu empfehlen?

Der Begriff des digitalen Zwillings kommt aus der Diskussion rund um Industrie 4.0 und Digitalisierung und suggeriert etwas epochal Neues. Oft geht jedoch der Blick dafür verloren, dass die Idee hinter dem digitalen Zwillings in vielen Unternehmen bereits seit Jahren verankert ist.

In vielen Bereichen gibt es etwa gesetzliche Vorgaben, die die Vorhaltung eines digitalen Abbildes quasi erzwingen. Man denke hier z.B. an das Produkthaftungsgesetz, das das Speichern von allen Daten rund um das eigene Produkt für zehn Jahre verlangt, falls eine Reklamation oder schwerwiegende Mängel auftauchen. Diese Daten und Projekte existieren also, wurden aber nicht unter dem Schlagwort digitaler Zwilling diskutiert. Der Durchdringungsgrad der Industrie mit digitalen Abbildern ist bereits recht hoch, wenn es sich nicht sogar bereits um ein absolutes Muss handelt.

Produzierende Unternehmen können aber durchaus noch größeren Nutzen aus ihren Daten ziehen. Die möglichen Aussagen – und der entsprechende Mehrwert im Sinne schnellerer und besserer Entscheidungen – werden immer genauer, deswegen sollten sich Unternehmen spätestens jetzt mit digitalen Zwillingen genauer beschäftigen.

Produktion

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Tablet Bildschirm mit PSI Software Produktion

Mit dem ERP-Modul Produktion können Sie in hoher Qualität und termingerecht produzieren sowie Materialbedarf und Kapazitäten über alle Produktionsebenen hinweg betrachten.

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Es liegt nahe, die vorhandenen Daten mittels intelligenter Algorithmen auszuwerten, die neue Zusammenhänge selbstlernend erkennen können und den Menschen  so Entscheidungshilfen auf einem ganz neuen Level an die Hand zu geben.

Die Voraussetzungen für einen digitalen Zwilling zu schaffen sind, wie wir gesehen haben, mit einem nicht unerheblichen Aufwand verbunden. Daher ist es ratsam, einen guten Plan zu machen und diesen stets kritisch auf den tatsächlichen Nutzen für die Wertschöpfung zu prüfen.

Das Internet of Things (IoT) wird die Menge an Daten nochmals drastisch erhöhen und den Trend befeuern. Die Ausmaße dieser Entwicklung können wir uns heute wahrscheinlich noch nicht genau vorstellen, die Möglichkeiten sind jedoch immens.

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Karl Tröger, PSI Automotive & Industry

Karl Tröger

Seit mehr als 20 Jahren ist Karl Tröger bei der PSI Automotive & Industry. In dieser Zeit hat er sich mit allen Aspekten von ERP-Software befasst und war in führenden Positionen in Entwicklung, Beratung und Marketing tätig. Heute versteht er sich als Bindeglied zwischen Kunden, Markt, Wissenschaft sowie Software-Entwicklung und Marketing. Der Diplom-Ingenieur der Elektronik und Nachrichtentechnik ist an der von der Bundesregierung initiierten Plattform Industrie 4.0 beteiligt und veröffentlicht regelmäßig vielbeachtete Publikationen über die Zukunft von fertigungsnaher Software.

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